Gazakrieg: Wie viele Gebäude zerstört sind und wie voll es im Süden ist (2024)

Datenanalyse

Der Norden ist fast komplett zerstört, der Süden ist voll von Geflüchteten. Für die mehr als 2 Millionen Palästinenser im Gazastreifen wird es immer enger.

Jonas Oesch, Jessica Eberhart

5 min

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Schon vor Beginn des Krieges galt der Gazastreifen als eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Heute drängen sich die 2,2 Millionen Einwohner auf immer weniger Platz. Die Uno schätzt, dass 80Prozent der Bewohner wegen der Kämpfe ihre Wohnung haben verlassen müssen. Nach Beginn des Krieges forderte Israel alle Bewohner des Nordteils auf, nach Süden zu fliehen. Der Norden wurde so stark bombardiert, dass nur noch 40Prozent aller Gebäude unbeschädigt sind. Das zeigt die Analyse von Satellitenbildern.

Nach Schätzungen hat heute die Hälfte der Einwohner Gaza und andere Städte im Norden verlassen. Weil Israel und Ägypten alle Grenzübergänge geschlossen haben, sammeln sich die Geflüchteten im Süden um Khan Yunis und Rafah. Am Wochenende hat Israel auch dort eine Offensive gegen die Hamas gestartet. In mehreren Gebieten im Südosten warf die Armee Flugblätter ab und schickte SMS, in denen die Leute aufgefordert wurden, nach Westen zu gehen.

Als «Norden» werden die Gebiete oberhalb des Wadi-Gaza bezeichnet – ein Feuchtgebiet mit einem Flüsschen, dass sich etwas oberhalb der Mitte quer durch den Gazastreifen zieht. Dort lebte vor dem Krieg die Mehrheit der Einwohner: 1,2 Millionen. Hier liegt insbesondere die Stadt Gaza, die vor dem Krieg mit ihren Universitäten, Museen und ihrem Fussballstadion das kulturelle Zentrum der Küsten-Enklave war.

Noch fast 700000 Einwohner sollen im Norden sein

Schätzungen der palästinensischen Statistikbehörde und der Uno legen nahe, dass sich heute noch 700000 Menschen im Norden aufhalten. Die meisten von ihnen sind wohl in Dutzenden von Einrichtungen des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) untergekommen. Genau weiss es aber niemand. Über Wochen gab es hier Bombardierungen und Gefechte, die Situation bleibt unübersichtlich.

In den ersten Wochen des Krieges hat auch niemand erhoben, wie viele Einwohner über die beiden Hauptrouten, die Al-Rashid-Küstenstrasse und die im Zentrum der Stadt gelegene Salah-al-Din-Strasse, das Wadi Gaza nach Süden überquerten. Erst seit Israel die Salah-al-Din-Strasse am 5.November zum «humanitären Korridor» erklärte, gibt es Schätzungen der Uno zu den Flüchtlingszahlen.

400000 Menschen querten das Wadi Gaza seither zu Fuss oder, wenn sie nicht laufen konnten, auf Eselskarren. Laut Berichten wurden die Geflüchteten aufgefordert, Fahrzeuge zurückzulassen und einen Checkpoint zu passieren, an dem sie fotografiert und ihre Ausweispapiere gescannt wurden. Die hohe Zahl, ein Drittel der Bewohner des Nordens, deutet darauf hin, dass am Anfang des Krieges viele Leute aus Angst vor Beschuss im Norden geblieben sind.

Die palästinensische Statistikbehörde bestätigte diesen Eindruck durch die Meldung, dass sich am 11.November noch 800000 Personen im Norden aufhielten. Und das, obwohl über Wochen keinerlei Hilfsgüter dorthin gelangt sind, die Wasserversorgung nicht funktioniert und Haus um Haus durch die Bomben zerstört wurde.

Es ist jedoch nicht nur die Angst, auf der Flucht ins Feuer zu geraten, die manche Palästinenser im Norden hält. Wenn Israel die Palästinenser auffordert, ihre Häuser zu verlassen, erinnert das viele an die «Nakba». Die Vertreibung von 1948, als 700000 Menschen ihre Häuser verlassen mussten und nie wieder zurückkehren konnten. Familien bewahren noch heute die Schlüssel ihrer Häuser von damals auf. Und so schien für manche klar: Wenn ich jetzt gehe, kann ich nie mehr zurück.

Die Situation im Süden

Für die 500000, die doch in den Süden gegangen sind, hat sich die Situation nicht deutlich verbessert. Auch dort haben Bombardierungen 15Prozent der Gebäude beschädigt. Auch dort sind Hunderttausende aus ihren Häusern geflüchtet. Der intakte Wohnraum im Süden würde für 800000 Einwohner reichen, heute sind es 1,5 Millionen.

Tatsächlich ist es für viele Geflüchtete noch enger. Die meisten finden sich in Flüchtlingscamps der Uno wieder. Dort haben sie die besten Chancen auf Zugang zu Hilfslieferungen. Die Camps wurden in Schulen und Spitälern eingerichtet. Es gibt aber auch Zeltstädte wie das Khan-Yunis-Trainingszentrum. Dort meldete die Uno schon Anfang November, dass jede Person nur zwei Quadratmeter Platz habe.

Im Khan-Yunis-Trainingszentrum herrschen prekäre Bedingungen, die das tägliche Leben der Bewohner nebst dem Krieg stark beeinträchtigen. Es mangelt an allen lebensnotwendigen Gütern, sauberes Trinkwasser und Brot sind zur Rarität geworden. Die Bewohner beschreiben die Lage als äusserst herausfordernd. Viele sind erschöpft oder krank, vermissen Familienangehörige oder sind vom Krieg traumatisiert.

Besonders problematisch ist die Benutzung der Sanitäranlagen. Anfang November gab es auf dem gesamten Areal nur 24 Toiletten, über 600 Personen mussten sich eine Toilette teilen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, viele müssen stundenlang für die Nutzung der Toilette anstehen. Satellitenbilder zeigen zwar, dass sich das Lager weiter ausweitet, allerdings dürften sich die Platzverhältnisse und Lebensbedingungen dadurch kaum genügend verbessern.

Aufgrund der überfüllten Lager sind viele Menschen gezwungen, auf den Strassen zu schlafen. Die Wintermonate im Gazastreifen sind zwar nicht so kalt wie in Mitteleuropa. Dennoch kann die Temperatur in der Nacht unter 10Grad fallen, und es regnet öfters. Manche Einwohner haben in der Feuerpause versucht, in ihre Häuser im Norden zurückzukehren. Israel hat dies aber strikt untersagt.

Methodik und Quellen

Die Daten zur Bevölkerung und zum verfügbaren Wohnraum vor dem Krieg stammen vom Palästinensischen Statistikbüro. Damit lässt sich errechnen, dass vor dem Krieg etwa fünf Personen auf 140 Quadratmetern gewohnt haben. Die durchschnittliche Wohnfläche in der Schweiz stammt vom Bundesamt für Statistik.

Welcher Anteil der Gebäude zerstört wurde, haben Corey Scher vom CUNY Graduate Center und Jamon Van Den Hoek von der Oregon State University analysiert. Sie nutzten dafür Radar-Satellitendaten der Sentinel-1-Mission und Gebäudedaten von Microsoft. Detektiert das Radar starke Veränderungen, wo vor dem Krieg ein Haus stand, wird es als beschädigt betrachtet.

Die Uno schätzt anhand von Berichten, wie viel Prozent der Gebäude zerstört und beschädigt wurden. Ihre Schätzung sind höher als die von Scher und Van Den Hoek. Es ist jedoch nicht klar, ab welchem Punkt bei ihnen ein Gebäude als «beschädigt» betrachtet wird. Eine ältere Uno-Analyse mit Satellitenbildern kommt auf deutlich tiefere Zahlen.

Wie viele Menschen mindestens aus dem Norden geflüchtet sind, lässt sich seit dem 5. November mit täglichen Erhebungen aus Uno-Berichten abschätzen. Am 16. November meldete das Palästinensische Statistikbüro, dass sich per 11. November noch 807 000 Personen im Norden befunden hätten. Damit lässt sich eine aktuelle Schätzung erstellen.

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