Predigte Hildegard von Bingen – als Frau im Mittelalter? (2025)

Theologin Hildegard Gosebrink ordnet das Wirken der Benediktinerin ein

Veröffentlichtam10.02.2025um00:01Uhr–VonMadeleine Spendier–Lesedauer:

Predigte Hildegard von Bingen – als Frau im Mittelalter? (1)

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Freising‐Hildegard von Bingen soll Predigtreisen unternommen haben, Briefe an Bischöfe und Päpste verfasst und Kleriker öffentlich zurechtgewiesen haben. Doch war das tatsächlich so? Die Theologin Hildegard Gosebrink zeigt auf, was sie über die Äbtissin herausgefunden hat.

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Hildegard von Bingen war Benediktinerin und lebte im 12. Jahrhundert. Als Klostervorsteherin nahm sie in ihren Schriften Stellung zu den Themen der Zeit. Auch zu der Frauenordination hattesie eineklare Meinung.Zudem sparte die Äbtissin aus Rüdesheim nicht mit Kritik, wenn sie sich in Briefen an den Klerus wandte. Doch predigte sie als Frau des Mittelalters öffentlich?Die Hildegard-von-Bingen-Forscherin und TheologinHildegard Gosebrink hat überprüft, was heute über die seelsorgerische Tätigkeit der Äbtissin aus Rüdesheim bekannt ist und was nicht.

Frage: Frau Gosebrink, hat Hildegard von Bingen jemals öffentlich eine Predigt gehalten?

Gosebrink:Ja, davon zeugen Briefe, die im Rupertsberger Riesencodex und in anderen Codices überliefert sind. Aber: Die Predigt, wie wir sie heute kennen, als Bestandteil der Messe, gab es im 12. Jahrhundert nicht. Auch Priester predigten damals nicht in der Messe. Predigten waren im Mittelalter eigene Veranstaltungen und eher eine Art spiritueller Vortrag oder geistliche Ansprache außerhalb der Liturgie. In Hildegards Vita findet man den Begriff "annuntiare" mit dem Hinweis auf ihr öffentliches Wirken. Wörtlich übersetzt bedeutet dies "verkündigen".

Frage: In Hildegard-Biographien ist sogar von ihren "Predigtreisen" in verschiedene Städte zu lesen. Sind diese historisch nachweisbar?

Gosebrink: In Köln, Trier, Metz, Würzburg und Bamberg soll Hildegard von Bingen dem Klerus und dem Volk Gottes öffentlich "verkündet" haben. Das überliefert aber nur die Vita, das heißt die mittelalterliche Lebensbeschreibung, die Hildegards Heiligsprechung vorantreiben sollte. Wir haben Zeugnisse aus ihrer Korrespondenz, dass zum Beispiel der Kölner Klerus sie darum bittet, das, was Hildegard bei ihrem Besuch vor Ort gesagt hatte, noch einmal schriftlich nachzureichen. Daraus können wir rückschließen, dass Hildegard tatsächlich in Köln war. Aber insgesamt haben wir keine gute Quellenlage. Die angeblichen Reiserouten ihrer Predigtreisen sind ein Konstrukt des frühen 20. Jahrhunderts.

Frage: In mehreren Briefen kritisiertHildegard von Bingenzum Beispiel Kleriker und Bischöfe.

Gosebrink:Mehrere Briefe enthalten die sogenannte "Klerikerschelte". Das war ein beliebter literarischer Topos im Mittelalter, den auch andere Autoren und Autorinnen nutzten. Auch Hildegards Visionswerke enthalten Kritik am Klerus: Sie prangerte Simonie an, also Ämterkauf, und die Sexualmoral der Kleriker. Hildegard war als Ordensangehörige eine Verfechterin des Zölibats und brachte das in ihren Schriften zum Ausdruck. So heißt es an einer Stelle: "Aber ihr seid niedergestreckt und kein Halt für die Kirche, sondern flieht in die Höhlen eurer Lust und wegen eures ekelhaften Reichtums, der Habsucht und der übrigen Nichtigkeiten unterrichtet ihr eure Untergebenen nicht".In einem anderen Brief an Kleriker beziehungsweise Kirchenobere kritisierte Hildegard deren mangelnde Sorgfalt beim Predigen: "Deshalb fehlt es dem Firmament der göttlichen Gerechtigkeit bei eurer Predigt an Leuchten, wie wenn die Sterne nicht scheinen. Ihr seid nämlich Nacht, die Finsternis aushaucht und gleichsam ein faules Volk, das aus Widerwillen nicht im Licht wandelt. Wie sich vielmehr eine nackte Schlange in einer Höhle verbirgt, so lasst ihr euch mit Abscheulichkeiten wie gemeines Vieh ein." Dieses Zitat findet sich in der Übersetzung der Briefe Hildegards der Benediktinerin Walburga Storch.

Predigte Hildegard von Bingen – als Frau im Mittelalter? (2)

Frage: In der katholischen Pfarrkirche in Bingerbrück wird Hildegard von Bingenin einem Kirchenfenster predigend bei den Menschen dargestellt…

Gosebrink:Die Kirchenfenster spiegeln die Rezeptionsgeschichte im 20. Jahrhundert wider. Wir wissen jedoch nicht, vor wem Hildegard gepredigt hat. Die Fenster legen nahe: vor Familien. Aber, ob das so war, lässt sich weder bestätigen noch verneinen. Wir haben da einfach keine Tatsachen vor uns und keine verifizierbaren Quellen. Wichtig ist: Hildegard hat den Anspruch, die Stimme Gottes wiederzugeben. In ihrem Selbstverständnis sind das nicht ihre eigenen Worte, sondern sie verkündet, was Gott sie wissen ließ. Dabei ist ihr "Berufungserlebnis" entscheidend, von dem sie berichtet, dass sie nun die Bibel versteht und den göttlichen Auftrag zur Schriftauslegung. So heißt es in dem Buch "Hildegard von Bingen: Wisse die Wege – Liber Scivias in der Übersetzung von Mechthild Heieck" auf Seite 15: "Und plötzlich verstand ich die Bedeutung der Schriftauslegung, nämlich des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bände sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments."

Frage: Also predigte Hildegard vor allem über ihre literarischen Werke?

Gosebrink: Genau. Die im Briefwechsel überlieferten Predigtinhalte und Hildegards theologische Trilogie atmen denselben inhaltlichen Geist. So wie alle anderen Schriften Hildegards. Hildegard hatte den Anspruch, die Bibel auszulegen. Und das tat sie autonom. Das ist für eine Frau ihrer Zeit herausragend. Außerdem: Sie legte für ihre Schwestern und für die Mönche vom Disibodenberg die Evangelien der Sonn- und Feiertage entlang des Kirchenjahres aus. Diese "Homilien" sind Miniaturen ihrer gesamten Theologie. Sie beruhen auf dem Auftrag der Ordensregel Benedikts für den Abt oder die Äbtissin, die Heilige Schrift für die Mitbrüder oder Mitschwestern auszulegen. Diese "expositio evangeliorum", die für die Konvente auf dem Disibodenberg entstand, wurde möglicherweise im Kapitelsaal vorgetragen. Im Vorwort zu ihrem Erstlingswerk "Scivias" skizziert Hildegard ihr Selbstverständnis: Sie fühlt sich von Gott dazu berufen, die Schrift auszulegen. Letztlich sind auch ihre drei Visionsschriften eine Auslegung der Bibel.

Frage: Was fällt Ihnen auf, wenn Sie die Schriftauslegungen von Hildegard von Bingen heute lesen?

Gosebrink: Die allegorische Sprache und die Bilder, die sie darin verwendet, klingen für mich erst einmal fremdartig. Da geht einem heute möglicherweise nicht gleich das Herz auf. Hildegard hielt sich an die mittelalterliche Art der Schriftauslegung und bediente sich des mehrfachen Schriftsinns. Dabei landete sie fast immer bei der Heilsgeschichte. Auffallend ist, wie sie sich als Autorin sieht: Sie stellt sich als arm, ungebildet und schwach dar und habe deshalb diese Gnade von Gott her erhalten, anderen ihre Offenbarungen zu verkünden. Andere schreibende Frauen im Mittelalter, etwa die Benediktinerin Elisabeth von Schönau, eine Zeitgenossin Hildegards, nutzten denselben literarischen Topos, um ihre Autorinnenschaft zu rechtfertigen.

Predigte Hildegard von Bingen – als Frau im Mittelalter? (3)

Frage: War Hildegard in ihren Schriften eine Reformerin ihrer Zeit?

Gosebrink:Ja, ganz bestimmt. Aber: "Reformerin" ist im 12. Jahrhundert etwas anderes als im 21. Jahrhundert. Hildegard war aus heutiger Sicht eine konservative Kirchenreformerin. So war sie zum Beispiel für den Zölibat. Sie schreibt, dass die Priester rein leben und nicht heiraten sollen. Wir würden heute eheliche Sexualität zum Glück nicht mehr mit Unreinheit in Verbindung bringen. In "Scivias" nimmtdie Benediktinerin Stellung zur Frauenordination. Sie sagt, dass Frauen nicht Priesterinnen werden können. Die göttliche Stimme lässt sie wissen, dass keine Frau dem männlichen Priester gleichgestellt werden und zum Altardienst hinzutreten dürfe, denn die Frau sei schwach. "Schwachheit" ist jedoch bei Hildegard ein positiv besetzter theologischer Topos, der eine nähere Betrachtung lohnt, denn zum Beispiel wird in ihren Schriften das göttliche Wort in der Menschwerdung schwach. Das heißt es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen Christus und den Frauen. Die Frau, nicht der Mann, repräsentiert bei Hildegard die Menschheit Christi. Ich finde es spannend, dass die Frauenordination offensichtlich schon im 12. Jahrhundert ein Thema ist und dass es für die göttliche Stimme in Hildegards Schriften Bedarf gibt, dazu Stellung zu nehmen. Intererssant ist, dass sich Hildegards gesamtem Werk kein Beleg dafür finden lässt, dass sie die Frau nicht im gleichen Maße für Gottes Ebenbild hält wie den Mann. Das ist für hochmittelalterliche Verhältnisse erstaunlich. Auch überraschtHildegard von Bingenssehr positive Sicht auf Eva aus dem Schöfpungsbericht im Gegenüber zur Gottesmutter Maria.

Frage: Dennoch wurde Hildegard von Bingen erst 2012 heiliggesprochen und zurKirchenlehrerinerhoben…

Gosebrink:Ja. Es hat sehr lange gedauert, obwohl es schon im Mittelalter dazu Bestrebungen gab.Ihr Werk wurde nach ihrem Tod verkürzt rezipiert. Eben weil bald nach ihr die Scholastik mit ihrem dialektischen Denken und ihrer Aristoteles-Rezeption Erfolg hatte. Das war damals modern, Hildegards Theologie in Bildern dagegen altmodisch. Ich halte Hildegard für eine großartige Theologin und Bibelauslegerin ihrer Zeit. Das Projekt der Deutschen Bischofskonferenz "Frauen verkünden das Wort"griff 2020 das von Papst Franziskus ausgerufene Jahr der Bibel auf. Damals predigten Frauen bewusst in der Nachfolge Hildegards, allerdings im Gottesdienst und tun dies nach wie vor. Die Predigt von Frauenund nicht ordinierten Männern im Gottesdienst ist ja durchaus möglich,nur offiziell nicht innerhalb der Eucharistiefeier, aber in allen anderen Gottesdiensten. Ich finde, Hildegard kann heute ein Vorbild sein für alle, die Gottes Wort verkünden und predigen - egal ob Männer oder Frauen. Hildegard macht Mut, nach dem Verständnis des Sinns der Schrift zu suchen und sie für unsere Zeit auszulegen.

VonMadeleine Spendier

Buch über Hildegard von Bingen

Die Theologin Hildegard Gosebrink beschäftigt sich in ihrem Buch mit dem Leben der Heiligen aus dem Mittelalter, ihrem Zugang zur Bibel, ihrem Denken in Bildern und gibtAnregungen,die Impulse der Kirchenlehrerin in der Gegenwart umzusetzen. Das Buch "Hildegard von Bingen: Die Welt ist voll Licht" von Hildegard Gosebrink ist im Patmos Verlag erhältlich und kostet 20 Euro.

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