Zwischen Fortschritt und Konflikt: Saudiarabien während des Gaza-Kriegs (2024)

Kronprinz Mohammed bin Salman will sein Königreich in einen Staat der Zukunft verwandeln. Der Krieg in Gaza passt da nicht ins Konzept. Eine Reise durch ein Land, das versucht, an der Normalität festzuhalten.

Daniel Böhm, Riad, Abha und Jidda

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Zwischen Fortschritt und Konflikt: Saudiarabien während des Gaza-Kriegs (1)

Eigentlich liebt Mohammed bin Salman das Rampenlicht. Aber beim Sondergipfel des Weltwirtschaftsforums (WEF), der dieses Jahr zum ersten Mal in Riad stattgefunden hat, ist der mächtige Kronprinz von Saudiarabien seltsam abwesend. Nur einmal zeigt er sich in der Öffentlichkeit, ganz kurz. Er eilt durch die Gänge des Kongresszentrums, von einem Treffen zum nächsten, verfolgt von mächtigen Wirtschaftsführern und ungläubig beäugt von den Umstehenden.

«Seine königliche Hoheit!», ruft eine Frau und holt ihr Handy heraus. Aber ehe sie ein Foto machen kann, ist der Prinz schon wieder verschwunden. Bis vor kurzem war er der «Golden Boy» des Nahen Ostens, an dessen Hof alle pilgerten: Politiker, die nach Erdöl dürsteten, Firmenchefs, die das grosse Geld witterten, und Glücksritter, die im neuen Saudiarabien ihr Glück versuchen wollten.

Das Wüstenkönigreich, vor ein paar Jahren noch berühmt für seinen religiösen Dogmatismus und seine strenge Abschottung von der Welt, ist dank den Reformen des Prinzen und seiner Spendierfreudigkeit für die globale Elite zu dem geworden, was Lourdes einst für Lahme und Aussätzige war: ein Wallfahrtsort, an dem Wunder geschehen.

Doch dann trat die Hamas den Krieg in Gaza los – und mit einem Mal fegt ein Feuersturm über den Nahen Osten, der alle Wirtschaftsreformen in Saudiarabien zunichtezumachen droht. Für den Kronprinzen ist es der schwerste Moment seiner bisherigen Regentschaft.

Noch stemmt er sich dagegen, verkündet immer neue Mega-Projekte und Mega-Investitionen. In seinem Reich herrscht scheinbar Normalität, während der Rest des Nahen Ostens auf der Kippe steht. Doch wer in diesen angespannten Tagen durch das Wüstenland reist – von der Hauptstadt Riad bis in die Provinzen –, merkt, dass sich auch Saudiarabien der Krise nicht komplett entziehen kann.

Riad: «Ihr glaubt immer noch, ihr wärt das Zentrum der Welt»

Die Lage in Saudiarabien sei überhaupt nicht dramatisch, sagt ein Banker im weissen Thawb, dem traditionellen Gewand saudischer Männer, an einem Abend in Riad leicht genervt. Er stochert lustlos im geschmorten Lammfleisch, das vor ihm auf einem goldrumrandeten Teller liegt. «Natürlich ist das, was in Gaza passiert, entsetzlich. Aber Saudiarabien wird sich von seinem Weg nicht abbringen lassen.»

Der Mann sitzt an einem Tisch im Ballsaal des «Ritz-Carlton» in Riad. Vor ein paar Jahren hat Mohammed bin Salman in dem Hotel unbotmässige Günstlinge einsperren lassen. Jetzt findet hier das Eröffnungsdinner des WEF statt. Vorne auf der Bühne trällert ein saudischer Pop-Star ein paar Lieder, im Saal servieren livrierte Kellner ein Fünf-Gänge-Menu. Geld scheint im Königreich keine Rolle zu spielen.

Saudiarabien gibt Unmengen davon aus, um Weltgeltung zu erlangen. Überall in Riad entstehen neue Überbauungen wie der «Boulevard», eine Mischung aus Disneyland und gigantischer Shoppingmall, in der am Wochenende K-Pop-Stars auftreten. Hoch im Norden seines Königreichs baut bin Salman sogar eine ganze Stadt, Neom, mit fliegenden Autos und einem verspiegelten Riesenwohnblock namens «The Line».

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Viel davon mag verrückt klingen – aber zumindest bei den Saudi scheinen die irren Projekte ihre Wirkung zu entfalten. Denn die Männer und Frauen am Tisch im «Ritz-Carlton» strotzen nur so vor Selbstbewusstsein. Der Westen schätze Saudiarabien völlig falsch ein, sagt der Banker, der perfekt Englisch spricht: «Ihr glaubt immer noch, ihr wärt das Zentrum der Welt. Aber dem ist nicht mehr so.»

Der Krieg in Gaza ist an diesem Abend nur ein Randthema. Genauso wie die geplante Annäherung an Israel, die bin Salman vor dem Krieg energisch vorantrieb, aber angesichts der schlimmen Bilder aus der Küstenenklave erst einmal auf die lange Bank schieben musste.

«Der Prinz weiss, was er tut. Wir haben einen weisen und vorausschauenden Führer», sagt eine Frau, die ebenfalls am Tisch sitzt und wie so viele hier ein Loblied auf bin Salman singt. Überhaupt hört man in Riad phantastische Dinge über den Prinzen, der offenbar nie schläft, Gäste stundenlang warten lässt und in den neuen Tourismus-Resorts am Roten Meer sogar die Farbe der Polstermöbel bestimmt.

Nachts leuchtet Riad, die Hauptstadt seines Reichs, wie eine asiatische Boomstadt. Auf den Autobahnen staut sich der Verkehr, überall machen neue Restaurants auf, es gibt Cafés mit spärlicher Einrichtung wie in Skandinavien und schummrige Shisha-Bars, in denen nur noch die Alkoholflaschen fehlen. Am Wochenende gibt es inzwischen sogar Partys, bei denen internationale Techno-DJ auflegen.

Doch das alles könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unter der Oberfläche brodle, sagt ein arabischer Expat auf einer privaten Feier hinter hohen Mauern. «Es gibt hier viele Leute, die nicht zufrieden sind – gerade auch wegen der Situation in Gaza. Aber sie sagen nichts, denn sie haben Angst.»

Abha: Der Fortschritt scheint unumkehrbar

Der Flug von Riad nach Abha gleicht einer Reise in die Vergangenheit. In der Maschine sitzen Männer in weissen Umhängen und Frauen in schwarzen Abayas. Die meisten von ihnen verhüllen sogar ihr Gesicht mit einem Stück Stoff. Das erinnert an die Zeit, als es in Saudiarabien noch aussah wie in einem Schwarz-Weiss-Film und es undenkbar war, dass Frauen Astronautinnen oder Rennfahrerinnen wurden.

Abha ist eine Provinzstadt im tiefen Südwesten, nicht weit von der Grenze zu Jemen. In Abha gibt es keine Wolkenkratzer wie in Riad und auch keine Partys. Stattdessen blühen hier die Jacarandabäume, und überall auf den Strassen liegen lila Blätter. Auf dem Markt verkaufen Männer mit schlechten Zähnen Honig, wie vor hundert Jahren. Ringsum steigen olivgrüne Berge in die Höhe.

Aber der Wandel hat auch Abha erreicht. Ihre Stadt sei eigentlich nie konservativ gewesen, sagen zwei junge Männer mit Shorts und Sonnenbrillen. «Das war uns von den Islamisten in den achtziger Jahren nur aufgezwungen worden. Jetzt finden wir endlich wieder zu uns.»

Die beiden sind Unternehmer und in Abha für eines der vielen Grossprojekte zuständig, mit denen der Kronprinz sein Land modernisieren will. Es ist ein im traditionellen Stil errichtetes Vergnügungsviertel am Rand der Stadt, mit weiss getünchten Häuschen, engen Gassen und Cafés, in denen junge Männer, die wie Hipster aussehen, frischen Cold Brew ausschenken.

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Wenn die Sonne untergeht, sieht man dort Dutzende tief verschleierte Frauen umhergehen. Wie grosse, schwarze Schatten gleiten sie an den leuchtend weissen Hauswänden vorbei. Aus Lautsprechern dringt derweil ein Lied der schwedischen Pop-Sängerin Lykke Li.

Veränderungen brauchten eben Zeit, sagen die Jungunternehmer. Aber der Fortschritt sei unumkehrbar. Das bekommen in Saudiarabien besonders die Konservativen zu spüren, die das Land jahrzehntelang im Griff hatten. Kurz nach seiner Machtübernahme hat bin Salman die einst mächtigen Prediger weggesperrt oder auf Linie gebracht.

Aber es sind nicht nur die Feinde des Fortschritts, die im Gefängnis landen. Auch Frauenrechtlerinnen, die zu schnell vorpreschen, werden verhaftet. Mitunter reicht eine unbedachte Bemerkung in den sozialen Netzwerken, um für Jahre hinter Gitter zu wandern. Jüngst hat es auch diejenigen erwischt, die sich zum Krieg in Gaza äusserten.

«Natürlich sind wir aufseiten der Palästinenser», sagt einer der beiden jungen Männer. «Aber es gibt eben gute und schlechte Palästinenser.» Hinter ihm ragt ein riesiges Wandbild von bin Salman empor. Der Prinz hasst die Hamas und hat den Saudi in Sachen Gaza Zurückhaltung verordnet. Dass er dabei mit harter Hand vorgeht, scheint die jungen Männer nicht zu stören. «Bei uns laufen die Dinge eben anders als bei euch», sagen sie.

Jidda: die Grenzen der Macht

Die junge Musikerin biegt auf eine Schnellstrasse in Jidda ein und gibt Gas. Sie trägt ihre blond gefärbten Haare offen, und im Radio ihres Hyundai läuft ein altes Lied der Indie-Rockband The Strokes. Es erinnere sie an die Zeiten, als alles noch verboten gewesen sei und man vieles heimlich habe machen müssen, sagt sie. «Aber Gott sei Dank ist das jetzt vorbei.»

Jidda, die Handelsmetropole am Roten Meer, sei schon immer liberaler gewesen als der Rest von Saudiarabien, hatte sie zuvor in einem Café im Zentrum von Jidda gesagt. «Wir sind eine Hafenstadt am Meer, offen zur Welt. Die Leute hier ticken anders als in Riad oder den Provinzen.»

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Lange galt Jidda als wirtschaftlicher Motor Saudiarabiens, ehe es von Riad abgelöst wurde. Hier waren die mächtigen Handelsfamilien zu Hause. Und hier drang auch ab und zu ein Spalt Licht in das konservative und streng abgeschirmte Königreich. Denn Jidda ist das Zugangstor für Millionen muslimische Pilger aus aller Welt, die nach Mekka und Medina reisen, den heiligen Stätten des Islam.

Die Heiligtümer, über die Saudiarabiens Könige wachen, bilden den Grundpfeiler ihrer Legitimität. Sie verleihen ihnen Ansehen in der islamischen Welt. Doch sind die Pilgerstätten auch eine Verpflichtung, die dem Handlungsspielraum der Herrscher Grenzen setzt. Denn als Hüter dieser heiligen Orte können sie es sich nicht erlauben, die Gefühle der Gläubigen zu verletzen.

Auch deshalb muss Mohammed bin Salman Solidarität mit Gaza zeigen – und auf eine Annäherung an Israel verzichten, solange es keine Aussicht auf einen unabhängigen Palästinenserstaat gibt. Über das Thema rede man allerdings nicht öffentlich, sagt die Musikerin in Jidda. Die Politik bestimmten andere in Riad.

Die Künstlerin freut sich, dass sie jetzt in Cafés und an Veranstaltungen auftreten darf. Aber wie alles in Saudiarabien hängen auch Kultur und Kunst am Tropf des Staates, der sich allen Bemühungen bin Salmans zum Trotz immer noch aus den Erdölexporten finanziert. Das Land, das der Kronprinz gerne als gewaltiges Startup präsentiert, ist am Ende immer noch ein Petrostaat.

Das neue Saudiarabien, sagt ein Ausländer, der schon länger in Riad lebt, wirke deshalb mitunter wie von einer künstlichen Intelligenz erschaffen: ein sauberes, perfekt funktionierendes Gebilde – solange niemand der Energiezufuhr den Stecker ziehe. Oder im Nahen Osten kein Krieg ausbricht.

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